Der Tagesanzeiger hat einen Bericht über unser Projekt „Weichen stellen“ in einer gekürzten Form veröffentlicht. Hier ist der vollständige Artikel.
Junge Berufsleute nehmen Kindern den Gymi-Druck
Kinder entscheiden zum ersten Mal in der 5. Klasse, ob sie ins Gymi möchten oder nicht, wissen zu diesem Zeitpunkt aber noch wenig über Berufe und Ausbildungswege. Zehn Lernende und junge Berufsleute haben 5. Klässlern der Primarschule Embrach ihre individuellen Wege vorgestellt.
Bernadette Dettling
Embrach. «Heute erfahrt ihr etwas über Polymechaniker und Polygrafiker – das klingt ähnlich aber es sind sehr unterschiedliche Berufe», erklärt der Schulleiter des Schulhauses Ebnet in Embrach Simon Manger. Am Freitag haben Hélène und Ramona ihre Ausbildungswege und ihren Beruf vier 5. Klassen der Primarschule Embrach vorgestellt – einer Klasse nach der anderen im Halbstunden-Takt mit 15 Minuten Pause dazwischen. Als die ersten Kinder eintreffen, sind sie bereit mit Laptop, Powerpoint- Präsentation und Anschauungsmaterial. Hélène ist in blauer Werkstatt-Kleidung erschienen. Auf dem Kopf trägt sie ein sportliches Cap. «Sind Sie Bauarbeiterin?», fragt ein Kind.
Hélène ist Polymechanikerin. Die 19-Jährige hat ihre Lehre im Ausbildungszentrum Winterthur begonnen und setzt sie nun bei der Diener AG in Embrach fort. Für Polymechaniker ist dies ein gängiger Ausbildungsweg: zwei Jahre Theorie und Praxis im Schulumfeld, anschliessend zwei Jahre Arbeiten in einem Betrieb mit ein, zwei Tagen Schule pro Woche. Nach der Lehre wird sie in einem Jahr Vollzeitstudium die Berufsmaturität anstreben, um an einer Hochschule oder an der Uni studieren zu können und vielleicht Ingenieurin zu werden. In einfachen Worten erzählt sie den Schülerinnen und Schülern, warum sie diesen Beruf gewählt hat: Ihre liebsten Fächer seien Handarbeit und Informatik gewesen. Sie habe schon immer gerne etwas mit den Händen gemacht. Bei Diener stelle sie jetzt Schrauben her, die in den Körper kommen. «Mit diesen hier werden Knochen zusammengeschraubt. Und diese hier haben wir extra etwas grösser gebaut, damit ihr sie seht. In Wahrheit sind sie ganz klein und werden für Zahnimplantate benutzt.» Kurz stockt sie und denkt nach: «Also, ich bin nicht ganz vom Fach – aber wenn euer Grosi einen Zahn verliert, dann kommen diese Schrauben in den Kiefer.» Nach dem Vortrag gibt es eine Fragerunde. Ein Kind streckt auf: «Sind Sie auch Zahnarzt?»
Im zweiten Anlauf zum passenden Beruf
Im Schulzimmer nebenan steht Ramona Bearth vor einer Klasse. Als Polygrafikerin ist Ramona Expertin für die Gestaltung schöner Drucksachen. Ihre Lehrstellensuche sei schwierig gewesen, erzählt sie offen, denn ihr ursprünglicher Berufswunsch war Polydesignerin. Dafür gebe es nur sehr wenige Lehrstellen, auf die sich viele mit einer Kunstschule vorbereiten würden. Das habe sie nicht gemacht und sei deshalb bei der Lehrstellensuche erfolglos geblieben. Im Nachhinein sei das ein Glück gewesen, denn sonst hätte sie vielleicht nie von ihrem heutigen Beruf erfahren. «Ich habe den Beruf Polygrafiker gar nicht gekannt. Aber, nachdem ich so viele Absagen als Polydesignerin bekommen hatte, sagte ein Lehrer zu mir, er könne ihn sich sehr gut für mich vorstellen.» Tatsächlich sei er wie auf sie zugeschnitten, denn sie habe schon immer gerne gezeichnet, fotografiert und am Computer zum Beispiel PowerPoint-Präsentationen kreativ gestaltet. Mittlerweile arbeite sie seit 13 Jahren bei Medico Druck in Embrach und bilde selbst lernende Polygrafiker aus. «Ich weiss jetzt, wie schwierig es ist, aus den vielen Bewerbern jemanden auszuwählen», sagt die 27-Jährige und ergänzt: «Absagen sind nicht persönlich gemeint. Alle sind so tolle junge Menschen, wie ihr, aber wir können nur eine Person nehmen. Gebt nicht auf, informiert euch gut über Berufe. Fragt erwachsene Leute, die euch kennen, was sie finden, das zu euch passen könnte.»
Eltern nehmen die Informationen dankbar an
Bei den Präsentationen dabei ist auch Jürg Altenburger. Der ehemalige Schulpflegepräsident der Primarschule Embrach und heutiges Mitglied beim Berufsbildungsfond Zürcher Unterland-Flughafen hat das Projekt «Weichen stellen» zusammen mit dem GVET und den Schulleitungen lanciert und die jüngeren Referenten auf ihre Aufgabe vorbereitet. Zum Auftakt hat er einen Informationsabend für die Eltern der 5. Klässler durchgeführt. Die Reaktionen seien durchwegs positiv gewesen. Gerade in Familien, die aus Ländern stammen, wo nur ein Universitäts-Abschluss zu einem Beruf führt, sei Aufklärung nötig und sie sei dankbar angenommen worden.
Die Lehrpersonen zeigen sich ebenfalls zufrieden mit dem Verlauf des Projektes. Die Frage, ob es in der 5. Klasse nicht vielleicht noch zu früh sei für die Kinder, sich über eine Lehre Gedanken zu machen, wird diskutiert. Altenburgers Argument ist, dass die Kinder dann mit der Anmeldung zur Prüfung die Weichen stellen müssen für Langzeitgymnasium oder Sekundarschule. Nach Altenburger melden sich zu viele an die Gymiprüfung an, denn nur die Hälfte hat Erfolg. Die andere Hälfte muss mit Druck und Scheitern klarkommen, ohne eine Idee davon zu haben, welche Bildungswege es gibt, wie verzweigt sie in unserem dualen System sein dürfen und wie offen es am Ende sowieso ist, wohin man gelangt. Das Ziel des Projektes sei erreicht, wenn den Kindern der Gymi-Druck genommen werde, indem sie erkennen, dass es viele, verschiedene Wege zu einem erfüllten Berufsleben gibt. Die individuellen Berufseinstiege der 10 jungen Referenten zeugen davon.
Link zum Artikel im Tagi:
https://www.tagesanzeiger.ch/embrach-junge-berufsleute-nehmen-kindern-den-gymi-druck-346211155561